Systemische Wirksamkeit und Kooperation als Wege zu höherer Wirksamkeit und Überlebensfähigkeit

Keine Organisation bewältigt die aktuellen Herausforderungen alleine!

Wirken über die eigenen Grenzen hinaus – das ist es, was sich neunerhaus vorgenommen hat. Die ursprüngliche Kernkompetenz von neunerhaus liegt in der Wohnungslosenhilfe. Aber die mittelgroße Organisation will mehr: Sie will über den unmittelbaren Effekt in der direkten Arbeit mit Klient:innen hinaus gesellschaftliche Rahmenbedingungen und das Mindset in der Branche bewegen. Ermöglichen soll dies insbesondere ein Fokus auf die »systemische Wirksamkeit« in der Strategieentwicklung. Wie das geht, das hat neunerhaus mit den beiden Trainconsulting Berater:innen in einer Form erarbeitet, die auch für andere Organisationen und Unternehmen zukunftsweisend sein könnte.

Erfolgreich im Neudenken

neunerhaus war schon in der Vergangenheit »systemisch« erfolgreich: So etablierte die Organisation eine Zusammenarbeit mit Wohnbauträgern, die es ermöglichte Wohnungen ohne große Hürden direkt an Obdachlose zu vergeben. Das hat den in der Wohnungslosenhilfe bis dahin fest verankerten Glaubenssatz, dass Wohnungen nur der Endpunkt einer gelungenen Integration sein können (anstatt vielmehr eine wesentliche Voraussetzung darzustellen), grundlegend verändert.

Wie solche Wirkungen auf das sozial-institutionelle »Ökosystem« systematisch und gezielt gefördert und entwickelt werden können, das haben sich die beiden Unternehmensberater*innen im Rahmen der neunerhaus-Strategieentwicklung genau angesehen.

Anita Lung und Oliver Schrader haben neunerhaus bei dieser Erkundung begleitet und daraus Überlegungen und Empfehlungen abgeleitet, die sie hier zur Verfügung stellen.

(Am Ende dieses Beitrags finden Sie zudem einen Videomittschnitt unseres Insights-Abends mit neunerhaus. Hier berichten wir mit neunerhaus Geschäftsführerin Elisabeth Hammer nochmals über den Strategie-Prozess.)

Wie kann eine Organisation ihren gesellschaftlichen Beitrag maximieren und gleichzeitig ihre eigene Überlebensfähigkeit stärken?

1. Hypothese: Um systemisch wirksam zu werden, müssen wir lernen in Feldern und Ökosystemen zu denken.

Organisationen sind der Ort in unserer Gesellschaft, an denen Weichen gestellt und Wirkungen erzeugt werden. Sie sind auch einer der wichtigsten Hebel um den großen Krisen und Bedrohungen der Gegenwart Paroli zu bieten. Um damit erfolgreich zu sein, müssen wir lernen, gesellschaftliche Innovation rasch in großer Dimension umzusetzen. Dazu müssen allerdings die Systeme rund um die eigene Organisation – Kunden, Lieferanten, Fördergeber, Gesetzgeber, Medien, – mitgenommen werden.

Im Falle von neunerhaus: Aus ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Mechanismen der Wohnungslosigkeit zog das neunerhaus Team den Schluss, dass Wohnen zumeist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Integration darstellt. Wirksam wurde diese Erkenntnis aber erst, als Wohnbauträger, kommunale Stellen und mehrere Sozialorganisationen daraus gemeinsam das Konzept des Housing First erarbeiteten und so die Praxis der Wohnungsvergabe an Wohnungs- und Obdachlose auf den Kopf stellten.[1] 

2. Hypothese: Sowohl die Praxis als auch die Theorie der Organisation ist bisher sehr auf die einzelne Organisation beschränkt.

Heldenmythen gibt es nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Organisationen. Ford, Tesla, Apple, Google und wie sie alle heißen, aber auch Patagonia, Greenpeace und Wikipedia sind Beispiele dafür . Aber wie schon Bert Brecht scharfsichtig formulierte, haben die Pharaonen die Pyramiden nicht allein und nicht selbst gebaut, und auch Pionierorganisationen bedürfen der Anschlussfähigkeit um wirksam zu werden.

Obwohl Kooperationsgeschäfte vielfältig und überall sind, so ist doch der praktische als auch der theoretische Fokus sehr oft noch auf die einzelne Organisation fixiert und eingeengt. Jeder Organisation ihre Vision, ihre Ziele, ihr Branding. Auch im systemtheoretisch inspirierten Diskurs hat die Betonung von Autopoiese und operativer Schließung Vorstellungen erzeugt, die die Organisation trotz aller System -Umwelt-Rhetorik als seltsam entkoppelt von Ihrer Umwelt gezeichnet haben.

Diese Sichtweise ist nicht »falsch« – aber man kann lebende Systeme und ihre Entwicklung auch anders beschreiben, etwa mit dem Begriff der Sympoiese, der von der Biologin und feministischen Theoretikerin Donna Haraway bekannt gemacht worden ist. Denn jede Spezies mit ihren spezifischen Lebenserhaltungsprozessen ist gemeinsam mit der Entwicklung eines Ökosystems entstanden, in der gemeinsamen Evolution und in enger Verzahnung mit den Prozessen anderer Spezies.

Aus dieser Überlegung stellt Haraway der autopoietischen »Selbsterschaffung« das sympoietische »Mit-werden« gegenüber. (welches, um Missverständnissen gleich vorzubeugen, nicht ein harmonisches Friede-Freude-Eierkuchen-Konzept eines gemeinsamen Miteinanders ist, sondern eine vielschichtige Vermischung aus Unterstützung, Zusammenarbeit, Konkurrenz und gegenseitigem Fressen jenseits normativer moralischer Vorstellungen).

Sie regt damit eine Fokusverschiebung auf die gemeinsame Entwicklung von Systemen und Spezies an, der auch für Organisation höchst fruchtbar sein könnte. Bei neunerhaus zeigte sich diese Haltung exemplarisch, an der Formulierung, dass in Kooperationen auch »das andere Ufer mit-bearbeitet« werden müsse, um in der Kooperation nachhaltig erfolgreich zu sein.

3. Hypothese: Der Kontext hat sich verändert – die gesellschaftlichen Herausforderungen erzwingen andere Wege zu Wirksamkeit und Kooperation.

Kooperationsgeschäfte sind vielfältig und überall und nichts Neues. Wozu dann dieses Gerede von einer Fokusverschiebung? Weil die gesellschaftliche Situation eine ist, in der wir in großer Dimension rasch global wirkende Muster verändern müssen, und das, bevor die reichen, mehrheitlich aus dem Norden stammenden Eliten wirklich einen Leidensdruck verspüren. Wenn der Begriff systemische Wirksamkeit also einen Unterschied machen kann, dann weil er eine implizite Praxis in bewusst eingesetztes, explizites Wissen umsetzt und mit bewusst gesetzten Zielen verknüpft. Wobei »systemisch« eine Bedingtheit, und ein Bewusstsein der Unkontrollierbarkeit beinhaltet.

Aber grundsätzliche Richtungen bewusst zu haben, kann helfen, und eine Theorie, die dabei unterstützt, Ansatzpunkte für ein großes Problem zu finden, ist es wert, formuliert zu werden. Nichts Praktischeres als eine gute Theorie!

4. Hypothese: In disruptiven Zeiten sind Kooperationen ein unersetzbares Fangnetz.

Aber nicht nur Sorge um die Entwicklung von Menschheit, Umwelt und Demokratie erfordert neue Zugänge und ein anderes Verständnis von Kooperation als bisher. Gesellschaftliche Veränderungen sind nach wie vor disruptiv. Amplituden und Unberechenbarkeit der gesellschaftlichen Berg- und Talfahrt werden eher zu- als abnehmen.

Geschäftsmodelle von heute können morgen schon obsolet sein. Das braucht einerseits wache Veränderungsbereitschaft, aber auch Solidarität. Vielfache Kooperationen, die Vertrauen bilden und Verbindungen schaffen, können in abrupten Veränderungen zu erfolgskritischen bis hin zu lebensnotwendigen Haltegriffen werden.

SYSTEMISCHE WIRKSAMKEIT

Wirksamkeit, die nicht durch die direkte Lösung eines Problems für einen Kunden oder Klienten zustande kommt, sondern die mittelbar dadurch entsteht, dass die Tätigkeit einer Organisation Vorbildwirkungen entwickelt, öffentliche Diskurse beeinflusst und/oder Einfluss auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen nimmt.

Backe, backe Kuchen. Eine Organisation die systemisch wirksam sein will, braucht vier Sachen:

1. Eine Vision, die über die Organisation hinaus wirkt

Systemische Wirksamkeit setzt die Frage voraus: Wozu wollen wir beitragen? Was braucht die Welt (von uns)?

Im neunerhaus Strategieprozess waren die Verantwortlichen davon ausgegangen, dass das Leitbild und die Vision stimmig und aktuell seien. Im Prozess der Auseinandersetzung wurde dann aber doch auch die Vision zum Thema, und schlussendlich zugleich allgemeiner aber auch einfacher gefasst.

Sie leitet nunmehr die Strategie ein:

»Unsere Vision ist eine inklusive Gesellschaft, in der alle Menschen Zugang zu Wohnen, Gesundheit, Gesellschaft, Bildung und Arbeit für Menschen, die strukturell benachteiligt sind oder ausgegrenzt werden. Jenen Menschen, die obdach-, wohnungslos oder nicht versichert sind, wenden wir uns dabei besonders zu.«

Obwohl die grundsätzliche Richtung sich nicht verändert hatte, hatten wir den Eindruck, dass diese sehr klare und gesellschaftsbezogene Vision, sowohl bei Mitarbeiter*innen als auch bei Kooperationspartner:innen viel positive Resonanz erzeugte.

Unsere Vermutung ist, dass eine solche starke Vision die langfristige Ausrichtung und das Durchhaltevermögen entscheidend stärkt.

2. Demut und Kooperationswillen: »wir können`s und müssen`s nicht alleine«

Die bewusste Entwicklung gesellschaftlicher Ökosysteme hat viel mit zielgerichteter multilateraler Kooperation zu tun. Und die setzt zunächst mal eine Haltung voraus:

»Wir können´s und müssen´s nicht alleine.«

Das klingt trivial, ist es aber nicht. Der Systemtheorie zufolge sind Organisationen autopoietische Systeme, selbst erzeugend und operativ geschlossen. Die jahrzehntelang gängige Lehre und Praxis der Organisationsführung und -entwicklung war, dass Organisationen für sich Visionen entwickeln und Ziele formulieren sollten. Wir entwickeln unseren USP, um unsere Ziele zu verwirklichen, Nummer 1 oder was immer zu werden.

Hilfreich für wirkungsvolle Kooperationen ist hingegen vielmehr eine Haltung des: »Wozu können und wollen wir beitragen?«

Man muss das nicht unbedingt in die Strategie reinschreiben, aber es hilft. Und es ist nicht trivial, weil die Organisation nach wie vor ihre Selbsterhaltung sichern muss, denn es braucht stabile, lebensfähige Organisationen als Partner anderer Organisationen, um maßgeblichen Einfluss zu generieren.

Also: die Organisation muss durchaus auf sich und ihre Ressourcen, finanzieller als auch personeller Natur, ihren Ruf und ihre Kontakte schauen. Eine Gratwanderung also.

Ökosystembildung ist kein Kurzstreckenlauf sondern eher ein Marathon. Sie fußt auf der Annahme, dass wir nicht nur morgen, sondern auch übermorgen auf einander angewiesen sein werden. Bei langfristiger Ausrichtung können vertrauensvolle Beziehungen mit Kontinuität entstehen. Auf diesem Boden können Interessenskonflikte und Differenzen als Quelle der Entwicklung bearbeitet werden.

3. Fokussierung

Nun ist »eine Gesellschaft mit Zugängen und gesellschaftlicher Teilhabe für alle zu allen relevanten Lebensbereichen« ein sehr großes Ziel, mögliche Player und Aspekte sind praktisch nicht eingrenzbar. Es war daher nötig in dieser Vision einen relevanten, bearbeitbaren Teilaspekt zu identifizieren, der in der Reichweite und Einflussmöglichkeiten der Organisation liegt.

Dazu war uns ein Fragenset der britischen Bewegungstheoretikerin Natascha Adams[2] hilfreich, dass sie »problem centered theory of change« benannt hatte«. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit der Frage: Wessen Denken und Handeln muss beeinflusst werden? Und wie kann das geschehen?

Diese Fragen öffnen ein komplexes Feld von Annahmen über Wirkungsbeziehungen und können auch mehrere Antworten haben. Im konkreten Fall war eine der Antworten, dass verantwortliche Beamte und Politiker ihre Haltung zur Möglichkeit der Unterstützung und Versorgung nicht abgesicherter Menschen – besonders was Gesundheitsversorgung und Wohnraum betrifft – überdenken müssen.

Zum Beispiel die hohen Zugangshürden oder auch die minutiöse Zeitverrechnungslogik bei Pflegeleistungen. Oder das Beharren auf einer segmentierten Budgetlogik, die insgesamt höhere Kosten verursacht, weil an einer bestimmten Stelle eingespart werden muss. Was könnte dazu beitragen? Beispiele, dass das funktionieren kann – Pilotprojekte, Versuche. Der Nachweis, dass Menschen effektiv und nachhaltig von der Straße wegkommen. Die Argumentation, dass dadurch sogar insgesamt Kosten eingespart werden können, weil etwa gesundheitliche Härtefälle und aufwändige Notversorgung vermieden wird. Gemeinsame Stellungnahmen von Sozialorganisationen.

4. Die Beschreibung des Ökosystems

Wenn das Ziel und die kritischen Faktoren klar sind, kann das Ökosystem unter die Lupe genommen werden. Wir überlegen, wer mitspielt. Welche Kräfte wirken hier? Was ist das Situationspotenzial? Welche Player teilen unser Ziel? Es entsteht ein Bewusstsein des Feldes, in dem wir uns mit diesem Ziel bewegen. In diesem Feld gibt es unterschiedliche Rollen und Beiträge zum Ziel.

Mit Blick auf das Ziel und das gesamte Feld, kann nun wiederum der eigene beste Beitrag bestimmt werden:  was genau sind unsere Stärken, und was fehlt in diesem Feld, damit Dinge wirksam ins Rollen kommen? Womit können wir andere unterstützen, ihrerseits wirksam zu werden?

WIE WIR DEN BEGRIFF ÖKOSYSTEM HIER VERWENDEN

Die für die gezielte Weiterentwicklung/Lösung einer spezifischen gesellschaftlichen Fragestellung relevanten institutionellen Akteure. Ein Ökosystem ist angelehnt an Margulis und Haraway kein geschlossenes System, sondern ein offenes, nicht eindeutig begrenztes Feld, dass natürlich von einem/einer Beobachter:in postuliert wird. Der Begriff »System« ist in dieser Hinsicht theoretisch nicht ganz korrekt (Haraway spricht auch von sympoietischen Gefügen, nicht von Ökosystemen), wir verwenden ihn trotzdem weil er unserer Meinung nach am ehesten veranschaulicht, worum es geht.

Soweit, so gut: die Vision ist formuliert, Teilziele identifiziert, Beiträge, Ressourcen und wichtige Player benannt.

Aber jetzt geht’s erst richtig los mit den Herausforderungen: Wie können Kooperationen angesichts sehr herausfordernder Umstände und auch medialen und politischen Gegenwindes gelingen?

In Kürze werden wir an dieser Stelle ausführlicher berichten. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Zudem:

Am 11. Mai 2023 haben wir das neunerhaus-Projekt gemeinsam mit der Geschäftsführerin Elisabeth Hammer als Vertreterin der Auftraggeber:innen vorgestellt. Hier der Mitschnitt der Veranstaltung:


[1] Hammer, Elisabeth: Hinschauen statt wegschauen, Wien, 2022

[2] Natasha Adams: eigene Mitschrift aus Symposion vom 10.Oktober 2020

Systemische Wirksamkeit und Kooperation

Wege zu höherer Wirksamkeit und Überlebensfähigkeit

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    Portrait von Anita Lung

    Anita Lung

    Soziologin und systemische Beraterin, Begleitung von Menschen und Organisationen in allen Phasen von Veränderungen; Hauptaugenmerk auf ressourcenorientiertem Arbeiten, um fruchtbare Arbeitskontexte und vertrauensvolle Kooperationen zu gestalten.

    a.lung@trainconsulting.eu
    +43 676 841 997 400

    Portrait von Oliver Schrader

    Oliver Schrader

    Systemischer Organisationsberater, Coach, Sozialwissenschaftler, Lehrbeauftragter, Experte für Organisationsanalysen und Großgruppen.

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