Wie wir diese Transformation groß genug denken können, um sie tatsächlich wirksam werden zu lassen, und was das Ganze mit systemischer Beratung zu tun hat, darüber habe ich mir mehr oder weniger runde Gedanken gemacht.
»Als ich ein Kind war, gab’s im ganzen Haus keinen Mistkübel.«
Zitat: meine Großmutter.
Auf dem Innviertler Bauernhof wurde wiederverwendet, repariert, umfunktioniert, aufgegessen, kompostiert und die paar letzten (Papier-)Überbleibsel zum Anheizen des Ofens verwendet. Zwei Generationen später beobachte ich das scheinbare Eigenleben meines Wiener Innenstadt-Mülleimers und wundere mich. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Und – Nostalgie beiseite – was hat das mit unserem heutigen Wirtschaften zu tun?
Die Erfindung des Ent-Sorgens
Wir produzieren und konsumieren Dinge, ziehen für eine gewisse Zeitspanne den maximalen Nutzen daraus, schöpfen also den für uns erkennbaren und relevanten Wert ab, und geben den Rest zurück. Oder weiter. An jemand anderen. Wen auch immer. An wen genau, wissen wir nicht. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Oder etwa doch?
Entsorgen können wir gut. In einer Konsumgesellschaft, die auf regelmäßige Neuanschaffung von Produkten setzt, müssen wir all das Konsumierte schließlich irgendwann auch wieder loswerden. Doch was meinen wir eigentlich, wenn wir entsorgen sagen? Entsorgen wir dann wirklich Dingliches, oder ent-sorgen wir nicht eher uns selbst? Befreien uns also von der Sorge um Materie, für die wir uns durch den Kauf zuständig fühlen? Und geht das überhaupt – sich dieser Zuständigkeit zu entledigen, indem man in jeden Raum einen Mistkübel stellt?
Re-cyceln und unser Selbstbild
Recycling liegt als Konzept momentan irgendwo zwischen Zukunftsmusik, Trend und neuer Normalität – je nach Material, regionaler Infrastruktur und Branche. Hier funktioniert in Punkto Technologie, Organisation und Veränderung schon einiges sehr gut, vieles ist noch zu tun. Die technologischen Möglichkeiten von Recycling und Wiederaufbereitung sind faszinierend und vielversprechend. Aber darauf will ich hier nicht hinaus.
Recycling ist letztlich (auch) eine Frage der Haltung. Denn technische Innovation kann erst in Kombination mit unserem entsprechenden Verhalten ihre volle Wirkung entfalten.
Wenn wir re-cyceln, meinen wir offenbar, dass wir etwas in den Kreislauf zurückführen. Sprache schafft Wirklichkeit.
Damit dies überhaupt geht, müssen wir es vorher dem Kreislauf entnehmen. Fragt sich: Welchem Kreislauf denn genau? Es ist letztlich wohl immer der Kreislauf der Natur, der den Bezugsrahmen darstellt. Und hier kommt der springende Punkt: Können wir etwas einem Kreislauf entnehmen und wieder zurückgeben, dem wir selbst angehören?
Und was heißt das für das Konzept der Kreislaufwirtschaft in Organisationen?
Kein Unternehmen kann »den Kreis schließen«.
Zumindest nicht allein. Was aufs Erste vielleicht irritierend und entmutigend klingt, kann auch als Entlastung gesehen werden. Kreislauf-Schließung ist keine Aufgabe für den Lonely Cowboy.
Es geht vielmehr darum, als Unternehmen die eigene Rolle im Kreislauf zu finden. Und dann die anderen Abschnitte des Kreises zu identifizieren und als Mitspieler anzuerkennen. Gemeinsam darauf hinzuarbeiten, das Staffelholz im Kreis zu reichen. Die Bedürfnisse, Ressourcen und Ziele im Blick zu haben – die eigenen wie auch die der Co-Unternehmen. Den Verlauf des Kreises als natur-immanent anzunehmen und die eigenen Handlungen daran auszurichten. Die Natur macht’s vor und ist eine geduldige, kreative Lehrmeisterin.
»Eine falsche Antwort ist leicht festzustellen, aber es braucht Originalität, um eine falsche Frage zu entdecken.«
Antony Jay: Management and Machiavelli
Worin sehen Organisationen also ihre Rolle im Kreislauf? Wo sind die Touchpoints zu anderen Organisationen? Wo funktioniert die Übergabe gut, wo geht etwas verloren?
Circular Economy ist als Wort mittlerweile ein heißer Kandidat fürs Bullshit Bingo. Hört und liest man öfter, als einem lieb ist. Kaum einer traut sich noch nachzufragen, was damit denn genau gemeint ist. Denn: das weiß man doch, als aufgeklärter Mensch! Ich frage mich: Wirklich?
Wenn wir das Konzept der Kreislaufwirtschaft ernst nehmen, bedeutet das mehr als das bloße Umschwenken von Primärressourcen auf Recyclingmaterial. Es wird unsere Art des Wirtschaftens und Konkurrierens grundlegend auf den Kopf stellen. Nicht nur die Herkunft unserer Materialien ändert sich, sondern die Logik der Wertschöpfung.
Aus der Linie »take – make – use – dispose – pollute« wird eine runde Sache: »make – use – reuse – remake – recycle«1. Wer noch etwas tiefer gräbt, stößt auf die 9 R’s der Kreislaufwirtschaft: Refuse, Rethink, Reduce, Re-use, Repair, Refurbish, Remanufacture, Repurpose, Recycle2.
Recycling ist demnach in einer langen Kette von Handlungsempfehlungen die Letzte – und dennoch das, was wir meist zuerst mit Kreislaufwirtschaft in Verbindung bringen. Der Mülleimer lässt grüßen.
»Es beginnt als Park und endet als Parkplatz«3, kritisiert der indigene Vordenker und Umweltaktivist Ailton Krenak den Naturschutzgedanken, der ausschließlich ökonomisch gedacht ist. Es braucht, so meint er, die Wiederherstellung des Gleichgewichts von Mensch und Natur. Das wertschätzende Anerkennen dessen, dass wir eingebettet sind in ein Gesamtsystem. Und, dass wir und all unser Wirtschaften von den natürlichen Dienstleistungen dieses Systems abhängig sind. Die Forstwirtschaft braucht beispielsweise gesunde Wälder, um Holz ernten zu können. Die gesamte Landwirtschaft (also auch: Nahrungsmittelproduktion) hängt von stabilem Wetter, von Biodiversität, von gesunden Böden und einigem mehr ab. Die Dienstleistungen der Natur gilt es also zu bewahren und zu fördern, anstatt sie profitorientiert auszubeuten.
Die 9 R’s der Kreislaufwirtschaft gehen tief auf die Verhaltensebene – bedeuten also für jeden von uns einen Lebensstilwandel und auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Ebene eine fundamentale Transformation, wenn sie tatsächlich gelebt werden. Ich denke mir: wenn schon Transformation, dann doch bitte gleich gründlich. Indem wir nicht »nur« die Kreislaufschließung zum Ziel deklarieren, sondern das allumfassende Gleichgewicht. Und das bedeutet letztlich, nicht mehr zu nehmen, als die Natur zur Verfügung stellt – und diese Menge dann in regenerativen Kreisen zu führen.
Ich fasse zusammen: es geht um dreierlei. 1) Anerkennen der natürlichen Limits von Ressourcen. Innerhalb dieser 2) die eigene Rolle im Kreislauf finden und leben. Und 3) die Mitspieler:innen im Kreis identifizieren und ins Boot holen.
Mit einem Ziel: die Ressourcen gemeinsam bestmöglich – im Sinne der Bedürfnisbefriedigung für Mensch und Umwelt – zu nutzen.
Daraus ergeben sich wiederum Fragen. Wieviel Anonymität verträgt ein geschlossener Kreislauf? Mit wem müssen wir in Dialog gehen? Und wie profitiert jeder Teil des Kreises davon, wenn die Qualität des im Kreis geführten Gutes hochgehalten wird?
Die Logik ist simpel: je hochqualitativer das ist, was ich weiterreiche, umso besser ist auch das, was ich irgendwann wieder bekommen werde.
So gesehen bedeutet das: Zuliefer:innen und Kund:innen sind Teile des »eigenen Kreises«. Und deren Zuliefer:innen und Kund:innen ebenso. Genauso wie die eigene Organisation sich in andere Kreise eingliedert.
Was heißt das für unser Verständnis von Konkurrenz und Kooperation? Wie verändern sich Wettbewerbsbedingungen und -spielregeln, wenn wir Kreislaufwirtschaft konsequent weiterdenken und umsetzen?
Viele große Fragen. Meine Großmutter würde sagen: jössas.
Was also tun, wo anfangen?
Das 1×1 von systemischem Change besagt: Für energievolle Veränderung braucht es viererlei. Einen »Driver« – den Grund für die Veränderung. Dazu noch eine kräftige, klare Vision, entsprechende Ressourcen und erste konkrete Schritte.
Mehrere Driver liegen auf der Hand – aber gibt es darüber auch eine geteilte Sicht im Unternehmen? Oder hat jede/r ein eigenes Bild und eigene unabgestimmte Prioritäten im Kopf? Ressourcenknappheit, Klimawandel, CO2-Einsparungen, Kundenerwartungen, gesetzliche Regulationen… die Gründe »im Außen« für ein Wiedererlangen des Gleichgewichts häufen sich. Diese Gründe auch im »Innen« der Organisation zu vergemeinschaften und sich der Antreiber für Veränderung gemeinsam bewusst zu werden, ist ein energievoller Anfang.
Wie sieht es mit einem geteilten Bild der Zukunft aus? Um nicht weg zu gehen von einem ungeliebten Zustand, sondern hin zu einer Zukunft, die für alle wünschenswert ist? Wie manifestiert sich diese Zukunft, woran erkennen wir, dass wir ihr näherkommen?
Der Blick auf die Ressourcen macht Zuversicht und zeigt Handlungsmöglichkeiten auf. Was können wir gut, was gelingt uns bereits, wo sehen wir erste geschlossene Kreisläufe, die uns bisher gar nicht bewusst waren? Die positive Psychologie zeigt uns: Der erfolgreichste Weg der Veränderung ist die positive Verstärkung dessen, was schon gelingt. Dort kann angesetzt und ausgebaut werden.
Und last but not least: Erste konkrete Schritte können beispielsweise das Identifizieren von Mitspieler:innen, von den »Nachbarn im Kreis«, sein. Und die Kontaktaufnahme: Hey, wie geht’s euch mit diesen Herausforderungen? Was können wir voneinander lernen, wie Synergien heben und Potentiale der Zusammenarbeit ausschöpfen?
Vier Zutaten also für wirksame Change-Prozesse, um unser Wirtschaften an der Natur zu orientieren, Kreisläufe zu schließen und das Gleichgewicht wieder herzustellen. Um diese vielen Mülleimer irgendwann auch wieder abzubauen. Meine Großmutter fände das vermutlich gut… und unser Ökosystem auch.
1. https://www.entrepreneurship-campus.org/the-difference-between-linear-circular-economy/
2. https://circulareconomy.europa.eu/platform/sites/default/files/categorisation_system_for_the_ce.pdf
3. https://www.riffreporter.de/de/umwelt/cop26-nachhaltigkeit-kolonialismus-naturschutz-ailton-krenak?fbclid=IwAR1r24F0FpZ1CTuRo3RaGY5DqslOPv2pVzhmRshex7U7CE17UwvyNaoK8DE