Logistik

Trust the process

Seit einem Jahr arbeite ich mit der ungarischen Tochtergesellschaft eines österreichischen Logistikunternehmens zusammen und begleite dort einen Veränderungsprozess in Zusammenarbeit mit unserer Kooperationspartnerin Elvira Kalmár.

Die ursprüngliche Kundenanfrage kam mit der Information, dass es dem Unternehmen sehr gut geht, sein Umsatz hat sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt und die Mitarbeiter:innenzahl wuchs auch auf das 1,5-fache. Das mittlere Management erschien doch sehr bequem geworden zu sein. Der Geschäftsführer wollte mit der Einführung und dem Erlernen der Großgruppenmethoden, die er von der Muttergesellschaft schon kannte, weiterkommen. Aber wieso kommt es, dass das mittlere Management nicht führt? Uns leitete die Hypothese, dass hier die unterschiedlichen Dynamiken der schnell wachsenden Organisation zusammenprallen. Dass das mittlere Management nicht führt, deuteten wir als strukturelles Problem.

Um Energie zu mobilisieren und das mittlere Management gleich einzubinden schlugen wir vor, methodisch mit Appreciative Inquiry zu arbeiten. Der Kerngedanke von Appreciative Inquiry (AI) ist die Idee, dass Veränderungen am besten dann gelingen, wenn man möglichst viele Ressourcen aus dem eigenen System dafür nützen kann. AI richtet daher die gesamte Aufmerksamkeit auf die Fähigkeiten, Stärken und Energien des jeweiligen Systems: Statt den Fokus auf Probleme und Defizite zu richten, werden mögliche Lösungen und Ressourcen erforscht und genützt. AI ist gleichzeitig Selbsterforschung und eine starke Intervention. Sie regt die interne Kommunikation an, ermöglicht die Beteiligung vieler Mitarbeiter:innen und führt dazu, dass diese Verantwortung für den Prozess übernehmen. Als Beraterinnen haben wir bei vielen Organisationen erlebt, dass Wissen und Einsicht nicht ausreichen, um die Praktiken des Alltags zu verändern. Das stärkste Moment der Veränderung einer Praxis ist die Praxis selbst. 

Die Erfahrung, dass Veränderung beginnt, sobald wir anfangen neue Fragen zu stellen, hat sich hier wieder bewahrheitet. Eine Arbeitsgruppe aus Führungskräften, die nach größtmöglicher Diversität zusammengestellt wurde, hat in einem ersten Workshop die Philosophie der Methode kennengelernt, den Interview-Leitfaden entwickelt und die Interviewsituation geübt.
Innerhalb von acht Wochen hat die Gruppe 127 Kolleg:innen von insgesamt 440 befragt. Die Interviewpartner:innen wurden nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählt, damit alle wichtigen Perspektiven der Organisation abgebildet waren: langjährige und neue Mitarbeiter:innen, aus Büro und Lager und alle Standorte wurden involviert.

Die Gespräche lösten bei allen Beteiligten sehr positive Reaktionen aus. Auch Kolleg:innen, die nicht im Sample waren, wollten interviewt werden. Mitarbeiter:innen, die für das Gespräch in der Nachtschicht besucht wurden, haben das als Auszeichnung empfunden. Die befragten Kolleg:innen waren sehr offen, ehrlich und auch interessiert, wie es weitergeht.

Die Interviewer:innen haben die eigene Organisation mit einer neuen Brille wahrgenommen und sich selbst in einer neuen Rolle erlebt.  Vor allem als Führungskraft war es einigen ungewohnt nur zu fragen und mit einem forschenden und neugierigen Blick unterwegs zu sein. Manchen wurden durch die Befragungen ihre früheren Vorurteile bewusst. Sie berichteten davon, wieviel sie selbst durch die bewusste Gestaltung der Interviewsituation, durch die Vorbereitung auf die Gespräche und das Experimentieren mit Fragen gelernt haben. »Das war wie ein Kommunikationstraining!« hat eine Teilnehmerin festgestellt. Uns Beraterinnen hat die besondere Verbindlichkeit bei der Organisation und Durchführung der Gespräche beeindruckt. Durch die sehr ehrlichen, offenen, manchmal selbstkritischen Erzählungen bekam der Austausch eine besondere Qualität und hat eine der wichtigsten Ressourcen der Organisation, die gemeinsame vertrauensvolle Basis deutlich gemacht. Die Arbeitsgruppe der 14 Führungskräfte, die die Gespräche konzipiert, organisiert, durchgeführt, ausgewertet und präsentiert hat, ist ein Nukleus der erwünschten Veränderung geworden.

Die 127 Gespräche, die innerhalb von acht Wochen großteils unter Menschen, die sonst kaum oder gar nicht miteinander zu tun haben, stattgefunden haben, lösten in der Organisation eine spürbare Dynamik aus. Es ist gelungen, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich die Organisation selbst beobachtet und scheinbar Selbstverständliches besprochen wird. Gespräche am Flur, ungewöhnliche und erfreuliche Feedbacks haben schon in der Interviewphase gezeigt, dass sich etwas verändert.

Zu Beginn des Auswertungsworkshops konnte sich die Arbeitsgruppe zunächst nicht vorstellen, wie sie die unglaubliche Menge an Informationen und Eindrücken aufarbeiten wird.  Die Antworten auf die neun Fragen wurden in Kleingruppen gelesen, diskutiert, geclustert. Es wurde gemeinsam nach den roten Fäden in den Geschichten gesucht. In einem kreativen und lustvollen Prozess wurde eine zu den Inhalten passende Darstellungsform gefunden. Am Ende des zweiten Tages stand dann das Konzept der Präsentation der Ergebnisse mit klaren Rollen und Ausführungsdetails fest.

Als Höhepunkt der ersten Arbeitsphase fand an zwei Tagen die erste Führungskonferenz der Organisation mit allen 42 Führungskräften statt. Der besondere Anlass fand an einem besonderen Ort, in einem wunderschönen Anwesen nordöstlich von Budapest statt.

Hier wurden die Ergebnisse der AI-Befragung vorgestellt, gemeinsam die Schlussfolgerungen und die nächsten Schritte abgeleitet. Während der Vorstellung entstand in der Mitte des Raumes sogar eine räumliche Installation, die alle Inhalte greifbar machte. Die bisher nicht beteiligten Führungskräfte waren sehr gerührt und überrascht von der Qualität der Vorstellung, die sie mit starken Metaphern erreichte. Sie erkannten auch, wie viel Energie und Kreativität die Arbeitsgruppe in diese Präsentation hineinsteckte. Die Stärken der Organisation wie Stabilität, Zusammenhalt, vertrauensvolle und familiäre Atmosphäre, Förderung von Lernen und Entwicklung wurden fokussiert diskutiert. Auch bisher nicht thematisierten Fragen wurden besprechbar, wie z.B. die sehr operative Führung, wenig Verbindung zwischen den Bereichen, starke informelle Regeln und wenige vereinbarte Standards, Mängel der Infrastruktur.

Der Geschäftsführer war von der Präsenz der Arbeitsgruppe, von ihrem Engagement und wie sie den gebotenen Raum kreativ nutzte, sehr beeindruckt. Überrascht hat er festgestellt, dass alle seine Erwartungen übertroffen wurden. Die weiteren Gespräche vergingen mit sehr intensivem, gemeinsamem Nachdenken. Es konnten sich Kolleg:innen mit über 20 Jahren Betriebszugehörigkeit und die ganz Neuen, die in den letzten Wochen zur Organisation kamen, zusammenarbeiten.

Das Führungsteam konnte die Konferenz für ein Innehalten nutzen, um ein gemeinsames Bild über den Status Quo und die gewünschte Zukunft herauszuarbeiten. Alle, die im Raum waren, erkannten ihren Anteil am bisherigen Erfolg und ihre gemeinsame Verantwortung für den weiteren Weg. Und es war wieder das alte, starke Gefühl der Zusammengehörigkeit da, das schon für manche verloren schien. Sie haben die Magie der Großgruppe erlebt!
Allen wurde bewusst, wie schnell und wie viel die Organisation in den letzten Jahren wuchs. Ihre Strukturen, die formalen Regeln sind jedoch nicht mitgewachsen und die Art und Weise der jetzt notwendigen Führung wurde bis jetzt nicht thematisiert. Es braucht neue, vereinbarte Standards und Routinen, neue Kommunikationsformen mit viel mehr Feedback, ohne die Stärken der Informalität zu verlieren.

Am Ende des zweiten Tages standen fünf Themenbereiche fest, an denen neue selbstorganisierte Arbeitsgruppen in den nächsten Monaten arbeiten werden. Und wie selbstverständlich wollten alle Anwesenden an einer der Themen mitarbeiten. Der ursprüngliche Wunsch, das mittlere Management aufzurütteln und einzubinden, wurde erfüllt. Der Taxifahrer, der uns anschließend zum Bahnhof brachte, lauschte unserer Nachbesprechung mit Elvira. Er hat gefragt, was wir denn beruflich machen, weil es so spannend und angenehm war, uns zuzuhören. Mit dieser überraschenden Rückmeldung nahmen wir Abschied und wir freuen uns auf die Fortsetzung der Zusammenarbeit. Weitere Berichte folgen!!

Portrait von Anita Lung

Anita Lung

Soziologin und systemische Beraterin, Begleitung von Menschen und Organisationen in allen Phasen von Veränderungen; Hauptaugenmerk auf ressourcenorientiertem Arbeiten, um fruchtbare Arbeitskontexte und vertrauensvolle Kooperationen zu gestalten.

a.lung@trainconsulting.eu
+43 676 841 997 400