Hinweise für eine zieldienliche Entscheidungspraxis in Organisationen

Je ne regrette rien

Entscheidung ist natürlich vieles: strategische Entscheidungen und große Investitionen genauso wie die Einstellung einer neuen Sachbearbeiter*in oder die Frage, welche Farbe die Beschilderung des Parkplatzes haben soll. So unterschiedlich die Tragweite und Komplexität von Entscheidungen auch sein mag, gute Entscheidungen zeichnen sich ganz generell – behaupte ich – durch einige Qualitäten aus, die sie für die Organisation erst »brauchbar« machen.

Die letztendliche Wirksamkeit von Entscheidungen ist zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorhersagbar. Entscheidungen, die den Namen verdienen, sind grundsätzlich Wetten auf eine Zukunft, die wir noch nicht kennen. Ausschlaggebend für die Wirksamkeit einer Entscheidung kann daher nicht eine objektive »Richtigkeit« sein. Was dann? Ich sage: der Effekt, den sie auf die Energie und Handlungsfähigkeit der Organisation hat. Bei individuellen Entscheidungen, so könnte man sagen, kann man die Qualität daran erkennen, ob der Mensch, der sie traf, sie bereut oder nicht. Wenn nicht, war es (aus seiner Sicht) eine gute Entscheidung. Ob ich aber bereue oder nicht, hängt nicht in erster Linie vom Inhalt der Entscheidung ab, sondern von meiner Beziehung zu mir ab. Wenn ich eine Entscheidung bereue, verurteile ich mich und mein vergangenes Selbst – und bin dadurch aber blockiert, mich der Gegenwart mit all meiner Kraft und Aufmerksamkeit zu widmen und das Beste aus ihr zu machen. Gestehe ich mir aber zu, dass ich – auch wenn die Wirkungen nicht zufriedenstellend sind – die Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen getroffen habe, werde ich sie nicht bereuen. Und Kopf und Herz frei haben für den nächsten Schritt in die richtige Richtung. 

Eine wesentliche Auswirkung einer Entscheidung ist also die

Energie,

die sie freisetzt – beim Individuum, oder im Falle einer Organisation, bei den vielen mit der Umsetzung befassten Personen. Und diese Energie wird wieder dadurch maßgeblich beeinflusst, wie sehr den Entscheidungsträger*innen zugestanden wird, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. Wie aber entsteht das kollektive Gefühl, das eine getroffene Entscheidung die zu diesem Zeitpunkt bestmögliche war?



Entscheidungsmodell

Ein, wenn nicht der wesentliche Faktor für den Frieden der Organisation mit Ihren Entscheidungen ist die

Zielorientierung

Damit Entscheidungen zieldienlich sein können, muss es zu allererst mal ein Ziel geben. Und am besten eines, das Sinn stiftet. Dies scheint ein Allgemeinplatz zu sein, aber erstaunlich oft erleben wir in unserer Arbeit Organisationen, die nach dem Motto agieren, wir wissen zwar nicht wohin, aber dafür bitte im Eiltempo. Erst kürzlich berieten wir einen Dienstleistungskonzern, in dessen Führung mehrere strategische Richtungen miteinander konkurrierten. Ungeachtet der ungeklärten Richtungsfrage betrieben die Proponent*innen ihre jeweiligen Projekte in bester Absicht und mit höchster Energie. Das führte zu viel Folgearbeit, die sich aber gegenseitig weitgehend aufhob und daher in Summe nur einen sehr geringen Wirkungsgrad aufwies. Stattdessen ging die Burn-Out-Rate in die Höhe.

Gesetzt den Fall, es gibt gemeinsame Ziele, dann werden Entscheidungen fruchtbarer, wenn sie sich nachvollziehbar und begründet an diesen orientieren. Dies beinhaltet bei komplexen Fragestellungen auch einen entsprechenden Meinungsbildungsprozess, denn im Dialog sind Begründungszusammenhänge viel leichter zu erfassen und zu akzeptieren als mit One-Way-Botschaften.

Und schlussendlich werden Entscheidungen dann zielorientierter, wenn Menschen (mit Erfahrung) in einer Organisation ihren Bauchgefühlen folgen dürfen. Nach Gigerenzer sind Bauchgefühle verdichtete Erfahrungen, und führen – unter den richtigen Rahmenbedingungen – häufiger zu zielorientierten Entscheidungen, als solche, deren Begründung bis in Kleinste rational durchdekliniert wurde. Der Mut dieser Art von Stimmigkeit folgen zu dürfen, setzt jedoch einerseits Handlungsspielräume als auch eine bestimmte Fehlerkultur voraus, die gemeinsames Lernen aus Fehlern ermöglicht und nicht gewohnheitsmäßig in die Suche nach Schuldigen abdriftet.

Akzeptanz

Ein weiterer Faktor, der die Energie einer Organisation für Umsetzung wesentlich beeinflusst, ist die Akzeptanz der beteiligten, betroffenen oder auch nur beobachtenden Menschen. Auch wenn Führungskräfte weisungsbefugt sind, so ist die Qualität der Umsetzung sicherlich direkt proportional zur Akzeptanz, die eine Entscheidung bei Mitarbeiter*innen genießt. Und in vielen Fragen ist ja nicht ein(e) Einzelne(r) befugt, sondern abhängig von Kolleg*innen aus anderen Bereichen. Akzeptanz wird – neben der sichtbaren Nachvollziehbarkeit der Zielorientierung – dadurch erzeugt, wer worüber entscheiden darf, wer in welcher Weise in die Meinungsbildung einbezogen wird und welches Verfahren im Falle kollektiver Entscheidungen herangezogen wird. Was letzteren Faktor betrifft, so sind in letzter Zeit vermehrt widerstandsbasierte Entscheidungsverfahren in Mode gekommen. Entscheidungsmethoden wie der soziokratische Konsent oder das systemische Konsensieren haben den Vorteil, dass sie schnelle Entscheidungen in dynamischen Umfeldern ermöglichen, weil sie nicht die hundertprozentige Bejahung aller Beteiligten erfordern, aber doch Einspruchsrechte ermöglichen, wenn eine Perspektive gar zur sehr unter die Räder kommen sollte. 

Effizienz

Mitsprache und kollektive Entscheidungsfindung, die Quellen der Akzeptanz, haben aber auch ihren Preis: Sie sind aufwendiger als die Entscheidung der einzelnen Person. Und zu häufige, zu aufwendige Entscheidungsverfahren für zu viele Detailfragen untergraben die Akzeptanz der Akzeptanz. Nicht jeder möchte bei allem mitreden. Auch für die Qualität der Ausführung von Aufgaben ist es sinnvoll, den einzelnen Personen Spielräume zu lassen, in die man ihnen nicht jederzeit hineinpfuschen kann. Diskussions- und Entscheidungsverfahren lassen sich besser oder schlechter strukturieren, aber die Meisterdisziplin in der Gratwanderung zwischen Akzeptanz und Effizienz liegt in der Antwort auf die Frage, was von wem allein oder in welchem Team/Gremium gemeinsam entschieden (oder zumindest beratschlagt) wird. Die Struktur (= Verteilung der Entscheidungskompetenzen) ist damit auch eine der wesentlichen Entscheidungsprämissen (derjenigen Faktoren im Unternehmen, die den Umgang mit Entscheidungen als Ganzes prägen).

Verbindlichkeit

Wenn in Organisationen die Qualität von Entscheidungen bemängelt wird, dann häufig wegen ihrer mangelnden Verbindlichkeit. Entscheidungen werden in diesem Fall wieder umgestoßen, ohne dass der Richtungswechsel für die Betroffenen nachvollziehbar wird. Häufig, weil Nicht-Involvierte oder nicht ausreichend Berücksichtigte im Nachhinein Einspruch erheben, in traditionell strukturierten Unternehmen zumeist über den Weg der Eskalation. In diesem Fall ist die mangelnde Verbindlichkeit ein Ausdruck mangelnder Akzeptanz, die wiederum beispielsweise aus fehlenden Kommunikations-Prozessen, Abwesenheit einigender Ziele und/oder sternförmiger Führung resultieren kann. Mangelnde Verbindlichkeit tritt unserer Erfahrung auch öfters deswegen auf, weil unklar ist, ob schon eine verbindliche Entscheidung getroffen wurde oder der Prozess der Diskussion noch im Gange ist. Es fehlen sozusagen rituelle Marker, die für alle sichtbar machen: Top! Gilt! Um den Energie- und Fokusverlust zu vermeiden, der mit zu niedriger Verbindlichkeit einhergeht, schießen einige Organisationen aber auch über das Ziel hinaus. Einmal getroffene Entscheidungen gelten dann über lange Zeiträume, sind schwer in Frage zu stellen oder revidierbar. Solcherart einzementierte Verbindlichkeit verhindert aber die

Flexibilität,

die in einer wechselhaften Umwelt nötig ist, um angemessen und schnell reagieren zu können. Es gibt verschiedene Einflussfaktoren auf Flexibilität. Ein zentraler Faktor ist, wie flexibel und aufmerksam Rollendefinitionen und Schnittstellen in der Organisation gehandhabt werden. Veränderungen in der Umwelt werden häufig – wenn es gut geht – zu Veränderungen interner Rollenverteilungen. Dies setzt voraus, dass die Organisation a) ein Bewusstsein von Rollendefinition als permanenter Führungsaufgabe als auch b) ein Mindset pflegt, das transparente (Rollen-) Änderungen als normal erachtet, damit sich an diesen Veränderungspunkten nicht ständig Widerstände aufbauen. Hier helfen Entscheidungspraktiken und -systeme, die dynamisches Entscheiden fördern: agile und widerstandsbasierte Entscheidungspraktiken, die vom Grundsatz ausgehen »good enough for now, safe enough to try«. Also nicht solange Entwurfs- und Abstimmungsprozesse auswalzen bis »die« beste Lösung geboren ist, sondern Lösungsansätze schnell in die Umsetzung zu bringen und dann an der Praxis und durch Feedback zu lernen und weiter zu entwickeln.

Entscheidungsprämissen

Wenn eine Organisation für jede zu treffende Entscheidung erstmal eruieren müsste, wie und von wem sie getroffen werden soll, dann würde sie in der Regel wahrscheinlich nicht lange bestehen. Um diesem Schicksal zu entgehen treffen Organisationen Metaentscheidungen – Entscheidungen, die entweder andere Entscheidungen vorwegnehmen bzw. den Möglichkeitsraum einschränken oder aber Prozesse, Zuständigkeiten und Herangehensweisen vorschreiben, wie an eine bestimmte Herangehensweise heranzugehen ist. Niklas Luhmann nennt diese Meta-Entscheidungen Entscheidungsprämissen, und er nennt deren 4: Programme (= Prozesse und richtunggebende Leitplanken), Kommunikationswege (=Aufbaustrukturen inklusive Rollen), Personen und die Organisationskultur.

Da schon einzelne Entscheidungen einen starken Impact auf die Organisation entfalten können, ist die bewusste und gezielte Gestaltung der Entscheidungsprämissen und ihres stimmigen Zusammenspiels der stärkste Hebel, den Führung zur nachhaltigen Beeinflussung der Wirksamkeit der Organisation überhaupt hat. Und damit unserer Meinung nach auch die zentrale Führungsaufgabe schlechthin.

Portrait von Oliver Schrader

Oliver Schrader

Systemischer Organisationsberater, Coach, Sozialwissenschaftler, Lehrbeauftragter, Experte für Organisationsanalysen und Großgruppen.

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