Führung zwischen Gestern und Morgen

Arbeitskräftemangel, Engpässe bei Lieferketten, Inflation, Ukraine-Krieg, Klima- und Energiekrise, Pandemie  – ganz schön viel los da draußen. Es bedarf keiner wissenschaftlichen Betrachtung, um zu erkennen, dass sich all diese Einflüsse im Inneren von Organisationen niederschlagen. Was genau heißt es für Führung, wenn sich Organisationen in einem so dynamischen Umfeld bewähren müssen? Welche Zugänge sind hilfreich, um den Handlungsspielraum und die Wirksamkeit von Führung zu erhöhen?

Patentrezepte helfen gar nicht, weil Führung immer kontextgebunden ist. Sie ist immer Teil des Geschehens, das sie zu beeinflussen versucht. So sind hilfreiche Praktiken immer von den aktuellen Bedingungen abhängig.

In der systemischen Betrachtung sind Organisationen Kommunikationssysteme und Führung weit mehr als das Handeln einzelner Führungskräfte, sie ist eine Leistung der Organisation. Führung als Vitalfunktion sorgt für Außensicht und dafür, dass sich die Organisation hinterfragend beobachtet: Was braucht es gerade jetzt, um mutig in die Zukunft zu gehen?

Hier ein paar Ansätze:

Arbeit am und im System

Die reflektierende Funktion von Führung, die die Zukunftsfähigkeit der Organisation in den Blick nimmt, nennen wir Arbeit am System. Hier geht es um eine laufende Beobachtung des Öko-Systems mit etwas Abstand und jenseits des Tagesgeschäftes. Erst so entstehen neue Perspektiven, alternative Sichtweisen und Antworten auf Fragen wie:

  • Passt unser Geschäftsmodell noch?
  • Welche Entwicklungen in unserem Umfeld müssen wir unbedingt beachten?
  • Wofür bietet die aktuelle Situation gute Potenziale?
  • Wie müssen wir die Nahtstellen der Organisation gestalten?
  • Und was heißt das alles für die eigene Führungsrolle?

Aus dem Abgleich der Fähigkeiten der Organisation und den Anforderungen der Zukunft entstehen wichtige Entwicklungsimpulse.

Organisationen brauchen zugleich Arbeit im System, also die Kompetenz, die Erkenntnisse und Impulse der reflektierenden Führungsarbeit umzusetzen. Diese Seite wird klassisch mit Führung verknüpft: das operative Geschäft bewältigen, konkrete Probleme lösen, für wichtige Entscheidungen sorgen, die aktuelle Wettbewerbsfähigkeit sichern. Beide Führungsansätze zu trennen und bei konkreten Themen wieder zusammenzuführen, wird durch systemisches Führungsverständnis möglich.

Führung I

Mit Widersprüchen umgehen

In einer komplexen Welt mit vielen Unsicherheiten mäandern Organisationen zwischen (scheinbaren) Unvereinbarkeiten: Innen- versus Außenorientierung, Innovation versus Tradition, Qualität versus Schnelligkeit, Zentralisieren versus Dezentralisieren, Stabilität versus Wandel. Statt nach richtig oder falsch zu fragen, ist es nützlicher nach Routinen und Selbstverständlichkeiten zu fragen:

Wie wird bei uns entschieden, wie werden Entscheidungen kommuniziert, verstanden und umgesetzt?

Unsicherheiten und Widersprüche provozieren Entscheidungen. Organisationen haben die Tendenz, eine bestimmte Seite eines Widerspruches zu bevorzugen. Führung tut gut daran, auch die jeweils andere Seite zu beleuchten. Widersprüche sind meist keine wirklichen Gegensätze, sondern zwei Pole, zwischen denen es zu balancieren gilt. Zu akzeptieren, dass Widersprüche normal sind, schützt zugleich davor, sich nicht zu früh in die eigene Lösungsidee zu verlieben.

Dezentralisierung braucht anderes Führen

Um Kommunikationswege zu kürzen, Entscheidungen zu beschleunigen und näher am Kunden zu sein, sind flache Hierarchien und Dezentralisierung vielerorts beliebte Maßnahmen der Organisationsgestaltung. Die häufige Schlussfolgerung daraus ist oft weniger mittleres Management und  weniger Führung. Wir beobachten jedoch, dass es nicht weniger, sondern eine andere Führung und sogar mehr Kommunikation braucht.

Flache Hierarchien erfordern mehr Abstimmungsbedarf. Dazu gehört das bewusste Gestalten von Nahtstellen, an denen alte und neue Routinen aufeinandertreffen und Spannung erzeugen. Die Idee einer flachen Hierarchie ist die Verantwortung in der Organisation stärker zu verteilen und Entscheidungen nahe am Kunden zu ermöglichen. Das ist ein Lernprozess, in dem Führung neue Rollen als Sparringpartner, als Unterstützer und Haltgeber bekommt. Sie muss klar signalisieren, dass Fehler passieren dürfen und als Lernchance gesehen werden. Bei Unsicherheiten am Weg der Veränderung in Richtung flacher Hierarchien soll Führung für Klarheit und gemeinsame Zielbilder sorgen, sowie auch das für die jeweilige Organisation richtige Tempo wählen.

Neue Formen des Miteinanders

Agile, Ambitextrie, BANI, distributed leadership, New Work, VUCA – all diese Begriffe stehen für neue Formen der Kooperation, des Austauschs und des Findens von Entscheidungen und sind angesichts der Komplexität, Dichte und Vehemenz der Herausforderungen an Führung wichtige Instrumente.

Nicht nur äußere Einflüsse drängen uns, die Kultur der Zusammenarbeit zu verändern: Menschen erleben die Arbeitsbedingungen in Organisationen zunehmend als unerträglich. Nehmen wir als aktuelles Beispiel den Gesundheitsbereich: Einerseits leiden Menschen unter dem Pandemie-bedingten Arbeitsdruck. Viel mehr jedoch belastet die meisten die Art, wie zusammengearbeitet wird. Wie mit Mitarbeitern gesprochen wird – oder eben auch nicht.  

Menschen entwickeln neue Erwartungen an ihren Arbeitsplatz. Es geht ihnen darum, Selbstwirksamkeit zu erleben und Einfluss zu nehmen. Menschen wollen – wenn auch in unterschiedlichem Maß – Verantwortung mit übernehmen und dafür Anerkennung bekommen. Auch deshalb denken viele Führungskräfte über Culture Change nach.

Aus systemischer Sicht bestehen Organisationen aus Kommunikation. Wollen wir Organisationen verändern, müssen wir die Art, wie wir kommunizieren, kooperieren, entscheiden und führen verändern. Einmal in diese Richtung gedacht, geht ein Universum an Handlungsmöglichkeiten auf. Frühzeitig informieren, dialogische Formate dafür schaffen, die anderen an Entscheidungsfindung beteiligen – aber dort. wo es Sinn hat. Also nicht alibimäßig oder manipulativ. So geht Veränderung. Nicht alles muss von Führung entschieden werden. Aber Führung sorgt dafür, dass entschieden wird und fördert Selbstverantwortung und autonomes Handeln an den Grenzen der Organisation. Sie schafft selbstorganisierte Teams und achtet auf ausreichend Abstimmung. Das macht Führung nicht weniger wichtig, sondern anders wichtig – und Organisationen als Arbeitgeber attraktiver. 

Menschen oder Organisation führen

Hinter der Annahme »Wir müssen uns mehr um das Wohlbefinden unserer Leute kümmern« versteckt sich eine Unterstellung. Wenn Führungskräfte sich intensiv mit der Befindlichkeit ihrer Mitarbeiter befassen, führt das meist nicht zu mehr Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Im Gegenteil: Menschen sind durchaus in der Lage, für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen, wenn einige Rahmenbedingungen erfüllt sind. Wenn sie die Möglichkeit haben, den Sinn ihres Tuns und die größeren Zusammenhänge zu sehen. Wenn sie die Möglichkeit haben, mitzugestalten und wenn sie ihre Stärken in die Arbeit einbringen können. Und wenn klar ist, was von ihnen erwartet wird. Mit anderen Worten, wenn sie über Rollenklarheit verfügen. Dafür braucht es offene Kommunikation über Erwartungen, Feedback und Selbstverständlichkeit im Ansprechen von kritischen Themen.

In Organisationen wirken Muster, die stärker sind als der Wille der Beteiligten. Vertrauensvollere Kommunikation, transparente Entscheidungen und ergebnisorientierte Kooperation lassen sich nicht einfach beschließen – es braucht Strukturen und Formen, die das gewünschte Verhalten unterstützen.

Ein Beispiel

Die Eigentümerin und Geschäftsführerin eines größeren Familienunternehmens beschließt, mehr Verantwortung abzugeben und das mittlere Management stärker in strategische Fragestellungen zu involvieren. Im monatlichen Management Board bringt sie regelmäßig Themen zur Sprache – ohne viel Resonanz.

Nach einem halben Jahr macht sich bei ihr und bei den Führungskräften Frustration breit. Letztere erleben die Meetings als energiearm, demotivierend. Die Geschäftsführerin hingegen empfindet die Führungskräfte als wenig engagiert.

Gemeinsam mit Geschäftsführung und einem Teil der Führungskräfte erarbeiten wir nun eine Struktur für das Management Board mit einem Mix aus Inputs und Austausch, wechselnder Moderation, Verantwortung für Dokumentation sowie klaren Spielregeln. Nach drei begleiteten Meetings übernehmen die Führungskräfte.

Das Beispiel zeigt, dass Kommunikation nicht einfach Erfahrungsaustausch bedeutet, sondern echte Begegnung.

Das hier beschriebene Organisationsdesign bedeutet, Formen und Strukturen zu gestalten, die neues, auf die Strategie ausgerichtetes Verhalten ermöglichen und fördern. Das gelingt, wenn Führung nicht nur die Menschen im Blick hat, sondern konsequent auf die Organisation, Formen und Strukturen schaut.

Strategiearbeit: Räume für Reflexion schaffen

Führung führt. Ein forderndes Prinzip, das nicht nur für Veränderungsprozesse gilt. Aber wie lässt sich das Prinzip in Zeiten von Krisen, abrupter Umbrüche und immenser Arbeitslast umsetzen? Einen Teil der Voraussetzungen haben wir bereits erwähnt: für Außensicht sorgen, in Austausch gehen, frühzeitige und transparente Kommunikation. Darüber hinaus braucht es Raum für Selbstreflexion und Austausch mit anderen – sowohl auf individueller als auch organisationaler Ebene.  

Als Führungskraft brauche ich vor allem in fordernden Zeiten Resonanz und Außensicht. Albert Einstein wird die Aussage zugeschrieben, dass Probleme nicht in der Logik zu lösen sind, die sie geschaffen hat. Wir tendieren dazu, alte Muster – die meisten von ihnen waren sicher mal hilfreich – zu reproduzieren. Gleichzeitig treffen wir mit Erfahrungen und Wissen von gestern Entscheidungen zur Lösung der Probleme von morgen. Grund genug, mit einem geeigneten Gegenüber – Vertrauten, Kollegen oder Coaches – die eigenen Annahmen, Erklärungen und Überlegungen auszutauschen.

Auf struktureller Ebene ist es wichtig, dass Managementteams sich regelmäßig in einem vereinbarten Setting zu den aktuellen Herausforderungen austauschen. Krisenhafte, umbruchartige Umweltveränderungen wie wir sie heute erleben, sind nicht nur mit »order and control« bearbeitbar. Wie Felsbrocken auch Edelsteine enthalten, können die aktuellen Herausforderungen wertvolle Chancen beinhalten. Alleine um diese zu erkennen, braucht es unterschiedliche Perspektiven, durch die wiederum neue Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden.

Unternehmen benötigen klare Strategien für den Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, um in Zukunft erfolgreich zu sein. Und das gelingt, wenn Führung eben nicht nur im, sondern auch konsequent am System arbeitet.

Literaturempfehlungen

Oliver Schrader – Lothar Wenzl: Spielregel der Führung, Erfahrungen und Erkenntnisse aus Unternehmen. Schäffer-Poeschel Verlag

Torsten Groth – Gerhard Krejci – Stefan Günther (Hrsg.): New Organizing, Wie Großorganisationen Agilität, Holocracy & Co. Einführen und was man daraus lernen kann

Klaus Eidenschink – Ulrich Merkes: Entscheidung ohne Grund, Organisationen verstehen und beraten – Eine Metatheorie der Veränderung


Dieser Artikel wurde veröffentlicht im Magazin changement, Ausgabe 06 2022. Das Magazin ist als E-Paper hier erhältlich.


Portrait von Harald Lederer

Harald Lederer

Systemischer Organisationsberater, Wirtschaftstrainer, Experte für Non-Profit, Social Profit und Public & Health Care.

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Organisationsberaterin, Führungskräftecoaching zu Leadership und Change, langjährige Erfahrung als Führungskraft, Expertin für Leadership & Leadership Development

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Soziologin und systemische Beraterin, Begleitung von Menschen und Organisationen in allen Phasen von Veränderungen; Hauptaugenmerk auf ressourcenorientiertem Arbeiten, um fruchtbare Arbeitskontexte und vertrauensvolle Kooperationen zu gestalten.

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