DER TRAINCONSULTING BUCHTIPP

Die Welt aus den Angeln

Philipp Blom
Die Welt aus den Angeln
Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart

dtv Verlag 2018

Ja, Sie haben es richtig gelesen, hier geht es um die Kleine Eiszeit und um einen Blick in die Vergangenheit, der sich lohnen kann. Vor 300 Jahren veränderte sich das Leben in Europa und das Weltbild der Menschen radikal. Philipp Blom betrachtet die damaligen Veränderungen sowohl aus großer Höhe, um Muster zu erkennen und es gelingt ihm auch uns die Umwälzungen im Alltag der damaligen Menschen spürbar zu machen und Parallelen zu unserer Zeit festzumachen.

Was verändert sich in einer Gesellschaft, wenn sich ihr Klima verändert? Welche unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen hatte die Kleine Eiszeit im 17. Jahrhundert als die durchschnittliche Temperatur um 2 Grad Celsius zurückgegangen ist? Der Autor beschreibt die Umbrüche und Erschütterungen und die Veränderungen der Tradition, der Lebensweise, Essgewohnheiten, Glaubensinhalte, Weltsichten.

Der erste Teil des Buches beschreibt, wie die Menschen auf die unmittelbaren Folgen der Kälteeinbrüche und Unwetter reagierten und welche Erklärungen sie für diese Phänomene fanden. Anhand von Darstellungen in Gemälden, historischen Dokumenten lässt sich die Perspektive der Zeitzeugen rekonstruieren. So wissen wir zum Beispiel, dass in den harten Wintern die Themse in London ganz zufror und auf dem dicken Eis ein permanenter Jahrmarkt abgehalten wurde.

Der zweite Teil konzentriert sich auf wirtschaftlichen und sozialen Folgen und Verflechtungen. Sehr spannend ist, wie Alltagsveränderungen am Beispiel von Amsterdams Aufstieg zur Welthandelsmetropole gezeigt werden. Die Stadt ist als Umschlagplatz für osteuropäisches Getreide Richtung Süden enorm aufgewertet worden. Amsterdam wuchs durch Landflucht von Bauern, durch Zuzug von Katholiken, wegen Religionskriegen und Juden, die von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Der Handel konnte nur florieren, wenn die unterschiedlichsten Menschen miteinander gut umgehen und einander Vertrauen konnten.

Der dritte Teil geht darauf ein, wie sich die Weltsicht der Menschen in Europa veränderte und eine neue Art des Denkens entstand, auch durch eine Beobachtung und Auseinandersetzung mit der Natur.

Der Klimawandel war nicht direkt ursächlich der Grund, sondern eher ein Katalysator wie auch ein Druckmittel. Er begünstigte und erzwang gesellschaftliche Veränderungen wie die Reformation, Religionskriege, die Renaissance und eine massive Umgestaltung des Wirtschaftens. Die gesamte Ordnung Europas kam ins Wanken.

Die Europäer waren gezwungen, Alternativen zu einer Lebensweise zu finden, die sich seit mehr als einem Jahrtausend kaum verändert hatte. Die Abkühlung verursachte bitterkalte Winter, verregnete Sommer und katastrophale Ernten. Die kleine Eiszeit bewirkte radikale Wandlungen binnen weniger Generationen.

Am Anfang dieser Periode hatten Theologen die Deutungshoheit über Medizin und Wissenschaft, die Wirtschaft hing vom Getreideanbau ab, die Sonne drehte sich um die Erde und die Gesellschaft war statisch organisiert. Am Ende der Periode lebten die Menschen in einer Gesellschaft der Aufklärung, die wir mit unserer heutigen Brille betrachtet leicht wiedererkennen können.

Zu Beginn interpretierten die Menschen die Unwetter als göttliche Strafe oder die Folge von Hexerei. Einige Jahrzehnte später hatten auch wissenschaftliche Erkenntnisse eine breitere Wirkung und führten zu anderen, neuen Erklärungen.

Wenn sich die Umwelt verändert, reagieren Menschen nicht nur durch genetische Anpassung, sondern verändern auch ihre Kulturtechniken: Wir lernen in wenigen Generationen anders zu handeln. Dazu bedienen wir uns kultureller Konstrukte wie Philosophie und Religion. Es geht dabei nicht darum, ob diese wahr sind oder nicht, sondern wie und wem sie nützen.

Im aktuellen Umgang mit dem Klimawandel ist eine der Schwierigkeiten die Begrenztheit unseres Zeithorizonts. Wir leben jetzt und müssten die Folgen unserer Lebensweise für die kommenden Generationen beachten. Es fällt der Menschheit schwer die Risiken ernst zu nehmen, die über unserer Lebensspanne liegen.

Wir befassen uns auch wenig damit, was vor 300 Jahren das Leben in Europa radikal verändert hat. Historisch betrachtet sind 300 Jahre eine winzige Periode, doch bietet diese den nötigen Abstand die größeren Zusammenhänge in den Auswirkungen und auch die Parallelen zu unserer Zeit zu erkennen.

Philipp Blom kann als Historiker spannend verständlich machen, wie neue Erzählungen, die die Gesellschaft prägen, entstehen – beschleunigt durch klimatische Veränderungen. Diese neuen Geschichten transportieren die sich verändernden Ideale und Ängste der Menschen. Die beiden großen politischen Träume unserer Gegenwart – der liberale und der autoritäre Traum – wurden schon im 17. Jahrhundert diskutiert und führen seither zu kriegerischen Konfrontationen.

Durch das Eintauchen in eine Jahrhunderte zurückliegende Epoche, macht Philipp Blom uns Leser:innen greifbar, dass Perioden der Stabilität in der Geschichte stets nur von kurzer Dauer waren. (Nicht allein) durch den aktuellen globalen Temperaturanstieg befindet sich unsere Gesellschaft mitten in einer neuen Transformation, es steht vieles auf dem Spiel.

Ein neues Jahr hat begonnen. Für viele war 2022 ein schwieriges Jahr. Für andere gar eine katastrophales. Was 2023 bringt, wissen wir nicht. Aber wir können es zum Teil beeinflussen. Beispielsweise durch mutige, inspirierende Organisationen als Kontrapunkt zu dieser wankenden Gesellschaft.

sozial - ökologisch - ökonomisch
Portrait von Anita Lung

Anita Lung

Soziologin und systemische Beraterin, Begleitung von Menschen und Organisationen in allen Phasen von Veränderungen; Hauptaugenmerk auf ressourcenorientiertem Arbeiten, um fruchtbare Arbeitskontexte und vertrauensvolle Kooperationen zu gestalten.

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